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Beitrag vom 29.09.2014
Vulva 3.0. - Zwischen Tabu und Tuning. Ein Dokumentarfilm von Claudia Richarz und Ulrike Zimmermann. Kinostart am 02. Oktober 2014
Claire Horst
Schon in den ersten zwei Minuten schwankt die Zuschauerin zwischen Amüsement und Entsetzen. Mit markiger Stimme und zackigen Bewegungen erläutert Dr. Uta Schlossberger, Fachärztin für Haut- und...
... Geschlechtskrankheiten, wie eine "schöne" Vagina auszusehen hat: symmetrisch und irgendwie "amerikanisch".
Die Frau, die gerade auf dem Behandlungsstuhl liegt und sich die Schamlippen aufspritzen lässt, stimmt ihr zu: "Geil!", kommentiert sie nach der Operation beim Blick in den Handspiegel und erklärt: "Wer ein bisschen Wert darauf legt, der sollte den Schritt ruhig gehen."
Eine Schönheitsoperation im Genitalbereich sei als Hilfeleistung für Frauen zu verstehen, findet Schlossberger, denn mit unterschiedlich großen Schamlippen, könnten Frauen schließlich nicht in die Sauna gehen. Nach diesem Auftakt ist es beruhigend zu hören, dass andere GesprächspartnerInnen der Filmemacherinnen andere Formen der Beschäftigung mit der Vulva gewählt haben.
Die meisten von ihnen interessiert weniger die Übereinstimmung mit einem wie auch immer gearteten Schönheitsideal, sondern das Verschwinden des weiblichen Genitals aus der öffentlichen Wahrnehmung, aus Kultur und Gesellschaft. So erzählt die Gynäkologin Helga Seyler, dass sie bei ihrer Arbeit an einem Familienberatungszentrum keine Fotos oder naturgetreuen Modelle verwenden könne. Stattdessen präsentiert sie ein kuscheliges Modell aus Stoff, das die Frauen weniger "schockig" fänden. Die Medizinhistorikerin Marion Hulverscheidt wiederum erzählt mit großer Begeisterung von ihren Entdeckungen: In medizinischen Lehrwerken 17. Jahrhundert sei die Klitoris naturgetreu als mehrere Zentimeter langes "Lustorgan" dargestellt worden. Heutzutage fehlten solche realistischen Darstellungen, und viele Frauen wüssten über die eigene Anatomie nicht Bescheid.
Ekel vor dem eigenen Körper ist weit verbreitet, diese Erfahrung haben auch andere Interviewte gemacht. Und wer diejenigen Filmsequenzen betrachtet, in denen plastische Chirurgen über die "Fehlerhaftigkeit" asymmetrischer Körperteile sprechen, in denen ein Erotikfotograf eine sichtbare Klitoris mit dem Druckstempel vom Foto entfernt, um "normalen" Vorlieben entgegenzukommen, wundert sich über gar nichts mehr.
Trotzdem ist die Gesamtaussage des Films eine fröhliche und bestärkende, denn zu Wort kommen vor allem Frauen, die ein positives Körperbild verbreiten möchten. Von der Sexualpädagogin bis zur Medizinhistorikerin sprechen sie mit Selbstbewusstsein und Freude über viel zu wenig vertraute Körperteile.
Ganz unterschiedliche Gesichtspunkte werden betrachtet, wenn so vielfältige Persönlichkeiten zu Wort kommen wie die Kulturwissenschaftlerin Mithu Melanie Sanyal, die Verlegerin Claudia Gehrke und die PorYes-Aktivistin Laura Méritt. So berichtet Sanyal von den Ursprüngen der Verachtung des weiblichen Körpers in den europäischen "Rassentheorien", erzählt Gehrke von der Körperfeindlichkeit vieler Menschen, die zu Anzeigen gegen sie und ihren Verlag geführt hat, zeigt Méritt stolz ihre Sammlung von Mösen aus Stoff, Plastik oder auf Gemälden. Auch von uralten Mythen ist die Rede: "Das Zeigen der Vulva vertreibt Bären und Löwen, lässt den Weizen höher wachsen, beruhigt Sturmfluten und Dämonen haben Angst davor. Der Teufel läuft weg. Das Zeigen der Vulva rettet die Welt."
Darstellungen der weiblichen Genitalien finden sich auf englischen Grabsteinen, japanischen Zeichnungen oder in der griechischen Mythologie.
Dass selbst Wilfried Schneider, Referent der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die allgemein grassierende Angst vor nackten weiblichen Körpern nicht verstehen kann, lässt diese noch absurder erscheinen.
Einen ganz anderen und ungleich ernsteren Aspekt des Themas beleuchtet die Dolmetscherin Jawahir Cumar. Sie ist die Gründerin von Stop Mutilation e.V., einem Verein, der sich der Aufklärung über und Bekämpfung von weiblicher Genitalverstümmelung widmet. Cumar spricht nicht nur von der Gewalt, der Frauen und Mädchen ausgesetzt werden, sondern auch von den Zuschreibungen durch Neugierige, die den betroffenen Frauen jede Selbstbestimmung und jedes Lustempfinden absprechen.
AVIVA-Tipp: Ein Film, der Spaß macht, irritiert und gleichzeitig informiert. Die Freude, mit der die Frauen über den weiblichen Körper sprechen, ist ansteckend. Schön wäre es, wenn der Film dazu beitragen würde, diese Freude zu verbreiten.
Zu den Regisseurinnen:
Regisseurin Claudia Richarz, geb. 1955, Studium an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg, Fachbereich Visuelle Kommunikation. Abschluss mit Diplom. Realisiert seit vielen Jahren dokumentarische Formate. Grimme-Preis 2000 für "Abnehmen in Essen" (10tlg Serie für WDR und Arte). Seit 2012 Produktion von DVDs über Sexualität und Körperbewusstsein zusammen mit Ulrike Zimmermann.
Claudia Richarz im Netz: www.claudiaricharz.de
Regisseurin und Produzentin Ulrike Zimmermann, 1988 Diplom an der Hochschule für Bildende Künste im Fachbereich Film. Gründung der MMM Filmproduktion 1989. Seit 1995 Arbeit als Produktions- und Herstellungsleitung sowie als freie Produzentin. Seit 2000 Inhaberin der MMM Film GmbH. 2001 Gründung der Laura Film, Stuttgart und MMM Film Berlin. 2006 Gründung von MMM Film Verleih. 2011 Gründung des Labels lauramedia.
Lesen Sie eine Rezension zu dem von ihr produzierten Film Fremde Haut auf AVIVA-Berlin.
Der Film im Netz: mmmfilm.de
Vulva 3.0. - Zwischen Tabu und Tuning
Deutschland 2014, 79 min
Regie: Claudia Richarz, Ulrike Zimmermann
Buch: Ulrike Zimmermann
Kamera: Claudia Richarz
Produzentin: Ulrike Zimmermann
Verleih: Laura Media
Starttermin 02. Oktober 2014
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